Projekt Visitenkarte
»Ludwigshafen als ein Ausdruck für die ‘Bahnhofhaftigkeit’ unseres modernen Lebens, für das ‘Nichtzuhause’ im ‘Noch-Nicht’.« (Ernst Bloch)
Projekt Visitenkarte, ein in den 60er Jahren angestoßenes städtebauliches Konzept, sollte die Entwicklung der einst gesichtslosen Arbeiterstadt Ludwigshafen am Rhein für die kommenden Jahrzehnte prägen. Durch den zweiten Weltkrieg schwer zertört, soll ganz im Geist der damaligen architektonischen und städtebaulichen Avantgarde, eine neue, moderne Idealstadt mit sichtbarer Identität entstehen. Die Diskrepanz zwischen den ambitionierten Plänen der Nachkriegszeit, dem Versuch, neue, »zukunftsoffene« Heimat zu schaffen und dem jetzigen verschlafenen Zustand der Stadt ist groß. Heute wie gestern haftet Ludwigshafen etwas Unfertiges - ein Drängen und Warten auf die Zukunft an.Die Fotoarbeit »Projekt Visitenkarte« untersucht anhand von Archivmaterial und einer heutigen Bestandsaufnahme Verwirklichung und Verwerfung der städtebaulichen Pläne. Es wird der Versuch unternommen, die Identität, das Gesicht der Stadt, in einer neuen Visitenkarte greifbar zu machen und den »Geist der Utopie«, der spürbar über diesem Ort liegt, zu fassen ...
... Heutzutage herrscht Leere in der Stadt. Leere nicht nur augenscheinlich durch verwaiste Gebäude und Plätze, sondern auch in inhaltlicher Dimension im Bezug auf ein Leitbild für das Ludwigshafen von Morgen. Der Beton, einst Material und Ausdruck der Moderne, hat sichtbar Risse bekommen, wirkt von der Zeit gezeichnet und bleibt von frischen Augen unverstanden. Er ist in seiner Kahlheit Sinnbild des Rationalen, das heute oft als zu kalt und uniformierend wahrgenommen wird. Jenes Gefühl der Kälte wird durch die Leere der Stadt, den Leer-raum als Raum des Denkbaren und Möglichen, des Unwirklichen, da Unstetigen, noch befördert. Am Rande der »city«, in der Gegend um den Bahnhof, ist dies am deutlichsten. Geschlossene Geschäfte, verwaiste Bahnsteige und eine bahnhofsuntypische Ruhe regen zum Nachdenken an. Der Ort scheint im Dornröschenschlaf auf seine Bestimmung zu warten, die wohl nicht mehr findet ...... Gleich dem Schicksal des Bahnhofs stehen einige der einst modernsten Bauten verlassen in einer überdimensionierten Umgebung. Ihre Zukunft fand nicht statt - Sie sind heute vielmehr in Material, Konstruktion und Funktion Zeuge für die von Walter Benjamin beschriebene »latente Mythologie einer Gesellschaft«, die der Architektur einer bestimmten Epoche stets innewohnt. Sie stehen für den eindimensionalen, kapitalistisch-rational orientierten Charakter, der sich beabsichtigt im Erscheinungsbild der Architektur spiegelt. Einer Architektur, die eben nicht nur zeitgemäße Hülle ist, sondern durch ihre Form die Erziehung des Bewohners zum modernen Menschen übernehmen will.»Bauen als Gestaltung von Lebensvorgängen, als architektonischer Ordnungsversuch, der auf das Soziale zielt« ist stets ein Vorhaben mit Zeitkern. Heute sind die Vorzeichen andere - wieder zeigt sich eine neu gedachte Zukunft und das heutige Ludwigshafen, wie es sie sich uns darstellt, nur als eine von unzähligen Möglichkeiten der real gewordenen Utopien. »Ein Hauch Unwirklichkeit liegt über dieser Stadt« schreibt der englische Journalist Barry Kirk und meint damit vielleicht das Gefühl, wie in einer Zeitblase eingeschlossen, die Vision einer früheren Generation für eine andere Gesellschaft, durch Sprache und Form der Architektur wahrzunehmen. Das Leben im Wunschbild der Vergangenheit wirkt heute wie aus der Zeit gefallen, oder auch parallel zu ihr. Es scheint unwirklich, da deutlich wird, dass die Zeit, für die jene Konzepte entworfen wurden, bereits vergangen ist und heute ein anderes Ideal und eine andere Zukunft gedacht wird. Die Bauten stehen als Relikt einer älteren Wirklichkeit vor uns. Sie zeugen von einem radikalen Neuanfang, einem euphorischen Aufbruch, der für jüngere Generationen nicht nachvollziehbar scheint .... Heute lehrt uns das Beispiel auf ein neues, dass jede Zeit ihre eignen Vorzeichen hat und dass das Leben in der »Stadt von Morgen« selten und nie vollkommen erreichbar ist - denn mit jeder Generation verschieben sich die »Bestimmungen des Zukünftigen«, die tastend und experimentierend in architektonischen Entwürfen konkretisiert werden. Die Identitätskrise und das »Nichtzuhause« sind jedoch überaus wichtig, da neben all den vermeidbaren Fehlern der Vergangenheit nur hier Neues entstehen und erprobt werden kann. Ludwigshafens oft kritisierte Unstetigkeit, die »Bahnhofhaftigkeit« und Unfertigkeit zeigen dem Betrachter und Besucher, dass er hier keine Stadt der Vergangenheit mit einer tradierten und akzeptierten architektonischen Sprache vor sich hat. Er befindet sich im Maschinenraum des Utopischen, in dem sich einmal mehr oder weniger deutlich erahnen lässt, was gedacht wurde und was hätte sein können.